$ 1. Inhaltliche Umdeutung der Symbolik des Aussagenkalküls. 35 Prädikate sind nun, für sich genommen, weder wahr noch fälsch. Behauptet man also von einer Formel X bzw. X v Y, daß sierich- tig ist, so muß das einen anderen Sinn haben als bisher. Wir wollen jetzt darunter verstehen, daß das Prädikat X bzw. XvY auf alle Gegenstände zutrifft. Damit sind die Bedeutungen für alle Zeichen im Prädikatenkalkül festgelegt. Sämtliche Formeln erhalten den Sinn von allgemeinen Ur- teilen. Um die gewöhnlichen allgemeinen Urteile, wie etwa „Alle Men- schen sind sterblich‘‘, zur Darstellung zu bringen, kann man zunächst ein solches Urteil in der Form aussprechen: „Alle Gegenstände sind nicht Menschen oder sterblich‘‘. Führt man dann für das Prädikat ‚,ist ein Mensch‘‘ das Zeichen X, für „ist sterblich‘“ das Zeichen Y ein, so ergibt sich die symbolische Darstellung des Urteils durch: XvY. Entsprechend wird ein negatives allgemeines Urteil wie „Kein Mensch ist vollkommen“‘ durch die Formel: X v Y dargestellt, worin X, Y be- züglich die Prädikate ‚ist ein Mensch“, ‚„ist vollkommen“‘‘ bedeuten. Die genaue Interpretation der Formel X v Y lautet: Alle Gegenstände sind nicht Menschen oder nicht vollkommen. Wir können nun wieder nach den immer richtigen Formeln fragen, d. h. nach denjenigen Formeln, die bei Einsetzung beliebiger Prädikate für die Variablen X, Y, ... ein auf alle Gegenstände zutreffendes Prä- dikat ergeben. Es ist dann leicht einzusehen, daß bei der neuen Inter- pretation des Kalküls das System der immer richtigen Formeln genau dasselbe ist wie beim Aussagenkalkül. Es gelten nämlich zunächst wieder die Äquivalenzen a1)—a4), die die Umformung der Ausdrücke zur konjunktiven Normalform ermög- lichen. Ferner überzeugt man sich leicht, daß eine auf die Normalform gebrachte Formel dann und nur dann immer richtig ist, wenn jedes Konjunktionsglied einen Faktor Xv X enthält. Es kann also der Formalismus des Aussagenkalküls vollständig beibehalten werden; wir brauchen nur den Formeln eine andere Deutung zu geben. Neben der ursprünglichen Deutung und der Deutung im Sinne des Prädikatenkalküls gibt es für die Formeln des Aussagenkalküls noch eine dritte Interpretation. Es handelt sich hier aber gegenüber dem Prädikatenkalkül nicht wieder um die Einführung neuer logischer Beziehungen, sondern es wird nur den im Prädikatenkalkül ausdrück- baren Tatsachen eine veränderte Darstellung gegeben, welche für die Zwecke der Veranschaulichung Vorteile bietet. Diese Änderung der Darstellung besteht darin, daß wir die Prädikate, statt sie nach ihrem Inhalt zu bestimmen, durch :ihren Umfang charakterisieren. Jedem Prädikat entspricht eine bestimmte ‚„‚Klasse‘“1 von Gegenständen, indem man zu der Klasse alle Gegenstände rechnet, denen das Prädikat zu- 1 In der Mathematik wendet man an Stelle der Ausdrücke ‚‚Klasse‘“ ge- wöhnlich das Wort ‚‚Menge‘‘ an. 3*